
«Ich wurde in technischen Fragen nicht mehr ernst genommen»
Menschen mit zu vielen geöffneten Tabs seien digitale Messies, welche die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. So lautet das Vorurteil. Ich habe mit einer Betroffenen gesprochen und bin auf eine selbstständige und reflektierte Person getroffen.
Es ist ein gängiges und dennoch irritierendes Phänomen: Menschen, die im Webbrowser Dutzende, wenn nicht Hunderte von Tabs geöffnet haben. Die Tabs werden so klein, dass nicht einmal mehr die Favicons zu erkennen sind, geschweige denn die Beschreibung. Ich frage mich schon lange: Warum tut jemand so etwas? Was geht in den Köpfen dieser Menschen vor?
Nun hat sich eine Betroffene bereit erklärt, offen darüber zu reden. Carolin Teufelberger ist den Besucherinnen und Besuchern von Galaxus als Reporterin und DIY-Fachfrau bekannt. Was nur die wenigsten wissen: Sie leidet am TMTS (too many tabs syndrome).
Caro, wie äussert sich TMTS bei dir im Alltag?
Carolin Teufelberger: Aussenstehende werden vor allem durch wildes Geklicke darauf aufmerksam. Meine Browser-Leiste ist bunt eingefärbt von zig Favicons. Seiten, die ich immer wieder besuche, vor zwei Monaten besucht habe oder irgendwann einmal besuchen will, sprich nie anklicken werde. Doch ohne sie fühle ich mich nicht vollständig.
Empfindest du das selber als Problem?
Nein. Ich empfinde es eher als problematisch, wenn ich nach erzwungenem Neustart mit einem blanken Google Chrome dastehe.
Wurdest du schon gemobbt deswegen?
Ja, in Zeiten vor Homeoffice hat sich Kollege Ramon S* (Name der Redaktion bekannt) oft über mich lustig gemacht und jedes Software-Problem auf mein TMTS geschoben. Ich wurde bei technischen Fragen nicht mehr ernst genommen.
Hast du dir schon überlegt, mit anderen Betroffenen eine Selbsthilfegruppe zu gründen?
Immer mal wieder, aber bisher war ich zu faul, um mich ernsthaft zu vernetzen. Aber ich bin sicher, dass ich zu dem Thema noch irgendwo einen Tab offen habe.
Das geht mir auch so, aber ich komme dabei nicht auf 150 Tabs.
Warum denn nicht? Unterdrückst du deine Impulse?
Wahrscheinlich bin ich zu ungeduldig, um überhaupt so viel Text zu lesen, dass ich auf 150 Links komme ... aber ich habe das noch gar nie hinterfragt, wahrscheinlich weil mein Verhalten als normal gilt.
Wahrscheinlich unterwirfst du dich einfach der Mehrheitsgesellschaft, ohne dich zu fragen, wer du im Innern eigentlich bist. Das geht vielen so.
Mich stört aber auch der Kontrollverlust. Ich hab gern die Übersicht. Viele Betroffene behaupten, sie hätten ihre geöffneten Tabs vollkommen im Griff. Ich glaube denen kein Wort.
Ich habe dir vorhin ja schon ein paar meiner Tricks verraten. Aber klar, mit Kontrollverlust musst du bei TMTS immer rechnen. Mir gefällt dieses Risiko, vor allem seit mein Alltag durch die Pandemie von Routine und Kontrolle geprägt ist.
Du bist auch nicht auf besondere Hilfen wie zusätzlicher Arbeitsspeicher angewiesen?
Bislang nicht. Wenn’s beim Googlen mal etwas länger dauert, mache ich einfach noch einen Tab auf und schaue, ob es im neuen schneller geht. Bis ich das ausprobiert habe, ist die Seite im alten Tab meist geladen.
Vielen Dank für deine Zeit und dass du den Mut gefunden hast, so offen über dieses schwierige Thema zu sprechen!
Ich danke dir und hoffe, dass dieses Interview anderen Betroffenen hilft, sich nicht länger verstellen zu müssen.
Mon intéret pour l'informatique et l'écriture m'a mené relativement tôt (2000) au journalisme technique. Comment utiliser la technologie sans se faire soi-même utiliser m'intéresse. Dans mon temps libre, j'aime faire de la musique où je compense mon talent moyen avec une passion immense.
Des informations intéressantes sur le monde des produits, un aperçu des coulisses des fabricants et des portraits de personnalités intéressantes.
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